Nutzen wir nur 10% unseres Gehirns?

Mar 11, 2024Von Paddy Kälin
Paddy Kälin

Albert Einstein soll einmal gesagt haben, dass wir Menschen nur 10% unseres Gehirns nutzen würden. Belege für diese Aussage gibt es allerdings keine. Und dennoch hält sich die Aussage oder besser gesagt der Mythos bis heute. Und das ist es tatsächlich: ein Mythos.

Ursprung des Mythos'

Den einen einzigen Ursprung gibt es nicht. Vielmehr sind es verschiedene Aussagen und Erkenntnisse diverser Wissenschafter, die aus dem Zusammenhang gerissen oder falsch interpretiert wurden, die wohl zur Entstehung des 10%-Mythos' beigetragen haben.

people sitting on chair in front of table while holding pens during daytime

Wilder Penfield, ein kanadischer Neurochirurge, hat in den 1930er Jahren diverse Operationen am offenen Gehirn von EpilepsiepatientInnen durchgeführt. Dabei beobachtete er, dass er mittels elektrischer Stimulation gewisser Gehirnbereiche spezifische Reaktionen auslösen konnte. So wurde er zum Entdecker der motorischen und sensorischen Felder. Diese spezialisierten Bereiche der Grosshirnrinde sind für Bewegungssteuerung und sinnliche Wahrnehmung zuständig. Und sie machen tatsächlich nur einen kleinen Teil (daher vermutlich die 10% Theorie) der Grosshirnrinde aus. Wichtig ist aber, dass Wilder Penfield selbst niemals behauptet hatte, dass die restlichen Bereiche der Grosshirnrinde keine Funktion hätten.  Seine Erkenntnisse wurden falsch von anderen falsch interpretiert. Dabei sind die Entdeckungen Penfield's noch heute gültig. Die motorischen und sensorischen Areale der Grosshirnrinde sind so kartographiert, wie es der kanadische Forscher zu seiner Zeit postuliert hatte.

two people sitting during day

Der Querschnitt durch die von Penfield entdeckten und kartographierten Gebiete ist faszinierend. Jene Körperteile, die eine feinere motorische Steuerung oder sensorische Wahrnehmung benötigen (v.a. Finger und Gesichtsmuskulatur) belegen grössere Bereiche der jeweiligen Grosshirnfelder.

Widerlegung des Mythos'

Die These, dass wir nur 10% unseres Gehirns brauchen würden, wurde erst 1999 von der Wissenschaft offiziell als Mythos bezeichnet. Und es gibt auch mehrere Argumente, mit denen sich der Mythos zweifelsfrei widerlegen lässt.

bildgebende Verfahren

Dank moderner Technik wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) lässt sich die Aktivität des Gehirns abbilden. Und so lässt sich auch bildlich darstellen, dass - je nach Tätigkeit und Intensität derselben - unterschiedliche Bereiche des Gehirns aktiv sind. Leere und nutzlose Gehirnbereiche gibt es keine.

Evolution

Unser Gehirn ist relativ klein, verbraucht aber dennoch rund 20% unseres gesamten Energie- und Sauerstoffbedarfes. Dieses Organ zu unterhalten ist für den Organismus also ziemlich teuer. Jeder Bereich, der nicht wirklich benötigt würde, wäre im Laufe der Zeit und Entwicklung des Menschen von der Evolution gnadenlos wegrationalisiert worden.

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Plastizität

Bereiche, die häufig genutzt werden, bauen stärkere und schnellere neuronale Verbindungen auf. Auf der anderen Seite werden hingegen Verbindungen abgebaut, die nie genutzt werden. Das ist das Prinzip der Neuroplastizität unseres Gehirns. Wäre die 10%-Aussage korrekt, hätten sich folglich 90% des Gehirns abgebaut, weil sie nie genutzt wurden.

Schädigungen 

Gehirnverletzungen führen in den allermeisten Fälle zu funktionellen Beeinträchtigungen der betroffenen Person. Würden wir nur 10% unseres Gehirnes wirklich brauchen, blieben also auch etwa 90% aller Gehirnverletzungen folgenlos. Wir wissen, dass dies leider nicht der Fall ist.

Zusammenfassung

Die Aussage, dass wir nur 10% unseres Gehirns nutzen würden, hält sich bis zur Gegenwart erstaunlich hartnäckig. Wahrscheinlich auch deshalb, weil es sich vor allem im Werbebereich hervorragend eignet, um ein Produkt oder eine Dienstleistung anzupreisen. Nach dem Motto "wir zeigen Ihnen, wie sie das gesamte Potential Ihres Gehirns nutzen können" wird alles mögliche verkauft.

Tatsächlich ist es aber ein fundamentaler Unterschied, ob wir vom mentalen Potential sprechen oder davon, dass wir nur 10% der anatomischen Strukturen des Gehirns nutzen. Dass wir jede einzelne Struktur in unserem Hirn brauchen und nutzen, ist wissenschaftlich bewiesen. 100% unserer Gehirnstrukturen sind wichtig. Wie wir unser mentales Potential und damit die Möglichkeiten der anatomischen Strukturen zu 100% entfalten können, ist ein ganz anderes Thema.