Gedächtnis: Wikipedia im Kopf

Paddy Kälin
May 06, 2024Von Paddy Kälin

Unser Gehirn erfasst, filtert, sortiert und speichert permanent sensorische Reize aus unserer Umwelt und unserem Innenleben. Relevante Reize und Erfahrungen werden in unserem Gedächtnis abgelegt. Der evolutionäre Sinn dahinter lautet schlicht und einfach: Überleben. Mit Hilfe unseres Gedächtnisses sind wir in der Lage unseren Alltag besser zu bewältigen und zukünftiges Verhalten den Anforderungen anzupassen. 

Erinnern - ein konstruktiver Prozess

Eine Erinnerung ist nicht etwas, das wir haben. Eine Erinnerung ist immer eine Konstruktion unseres Gehirns. Eine Erinnerung ist also nicht, wie ein Buch, das unser Gedächtnis aus dem richtigen Regal holt. Eine Erinnerung wird von unserem Gehirn immer konstruiert und zwar aus verschiedenen Kapiteln aus verschiedenen Büchern an unterschiedlichen Standorten.

photo of brown wooden bookshelf

Schon früh haben sich die Menschen passende Modelle zurecht gelegt, um das Phänomen Gedächtnis zu beschreiben. In der Antike verglich man das Gedächtnis mit einer Wachstafel, in die sich Erinnerungen einbrannten. Später - mit der Erfindung des Buchdrucks - stellte man sich das menschliche Gedächtnis als eine Art Buch vor, in dem alle Erinnerungen niedergeschrieben werden. Nochmals etwas später wurde aus dem Buch ein Fotoalbum mit allen bildlich festgehaltenen Erinnerungen. In der Moderne kam der Vergleich mit einem Computer dazu. Aber unser Gedächtnis funktioniert nicht, wie eine Festplatte und hat obendrein auch noch eine viel grössere Speicherkapazität.

Inside harddisk magnetic open cover harddisk isolate on white background

Unser Gedächtnis funktioniert viel eher, wie Wikipedia. Ein Eintrag, der jederzeit umgeschrieben und ergänzt werden kann. Und zwar nicht nur von einer Person. Mit anderen Worten: Deine Erinnerungen können - mit ein wenig rhetorischem Geschick - auch von anderen Menschen ergänzt, umgeschrieben oder sogar frei erfunden werden.

Erinnerungen sind oft verzerrt, verfälscht oder schlichtweg falsch. Sogenannte "false memories" (falsche Erinnerungen) sind Erinnerungen an Dinge, die nie wirklich stattgefunden haben. Dazu gibt es verschiedenste Studien. Die StudienleiterInnen befragten die TeilnehmerInnen in mehreren Sitzungen über gewisse Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit. Dabei bauten sie auch gezielt eine frei erfundene Situation ein. Am Ende der Versuche berichteten die StudienteilnehmerInnen dann lebhaft, bildlich und detailliert über jene Dinge in ihrem Leben, die gar nie stattgefunden hatten. Sie erzählten zum Beispiel von einer Begegnung als Kind mit Bugs Bunny in Disneyland - obwohl Bugs Bunny keine Figur von Disney ist, sondern von Warner Bros.  

Verfälschte Erinnerungen auf der anderen Seite kann man sich vorstellen, wie ein unvollständiges Puzzle. Unser Gehirn fülltdie fehlenden Teile unbewusst für uns ein, so dass letztlich ein kohärentes und konsistentes Gesamtbild entsteht. Unser Gehirn ist Puzzle-Weltmeister.

Close up piece of white jigsaw puzzle , concept of business challenge completion with teamwork

Je öfter eine Erinnerung abgerufen wird, desto fehleranfälliger wird diese mit der Zeit. Den jeder einzelne Abruf ist ein kreativer Prozess. Der Hippocampus (eine Struktur im limbischen System) ruft die Erinnerung ab, unser Gedächtnis puzzlet das Gesamtbild zusammen und diese neu konstruierte Bild wird dann wiederum vom Hippocampus abgespeichert. Die erfundenenn Puzzleteile werden als real wahrgenommen und ins Gedächtnis übertragen. Beim nächsten Abruf fehlen dann vielleicht zwei, drei andere Teile, die von unserem Gehirn konfabuliert werden. Und so kann sich im Laufe der Zeit eine Erinnerung dramatisch verändern - ohne, dass uns das Problem wirklich bewusst wird.

Erinnerungen sind, wie Diamanten. Diejenigen, die am stärksten poliert sind und am hellsten leuchten, sind meistens Fälschungen.

Sitz der Erinnerungen

Erinnerungen werden nicht an einem einzelnen Ort im Gehirn abgespeichert. Beim Abrufen und Konstruieren einer Erinnerung werden stets mehrere Regionen im Gehirn aktiv. Erinnern Sie sich an Ihren letzten Urlaub bitte.

In diesem Moment liefert Ihnen die Sehrinde visuelle Informationen, also "Wie sah es aus im Urlaub?". Die Hörrinde steuert auditive Informationen bei und beantwortet die Frage "Wie hat es geklungen an jenem Ort oder in einer spezifischen Situation?". Dazu liefert der somatosensorische Kortex zum Beispiel Informationen über die Temperaturen im Urlaub. Und so weiter und so fort - sämtliche Informationen werden zu einem Gesamtbild zusammengebaut und fertig ist Ihre Urlaubserinnerung.

White's Seahorse Hippocampus whitei in Sydney, Australia

Zentrale Strukturen im gesamten Gedächtnisprozess sind im limbischen System beheimatet. Es handelt sich um den Hippocampus (weil er die Form eines Seepferdchens hat, heisst er so) und die Basalganglien. Sie sind die Organisatoren und entscheiden, wie und was ins (Langzeit-)Gedächtnis gelangt.

Stufen der Informationsverarbeitung

Das Ultrakurzzeit-Gedächtnis speichert sensorische Reize maximal 2 Sekunden. Auf unser Gehirn strömen pro Sekunde rund 11 Millionen Reize ein. Zum Glück werden diese meist sehr zuverlässig gefiltert, so dass nur wenige in unser Bewusstsein dringen.

Die nächste Stufe nennt sich Kurzzeit-Gedächtnis. Hier können 7 plusminus 2 Elemente gespeichert werden (deshalb können wir uns eine Telefonnummer gerade noch so merken, wenn keine Störung dazwischen kommt) und zwar in einer Zeitspanne von 20 Sekunden bis maximal einer Stunde. Die am Vorabend gelernten Franz-Vocis sind also streng genommen nicht mehr in unserem Kurzzeit-Gedächtnis.

Unser Langzeit-Gedächtnis hat eine fast unlimitierte Speicherkapazität. Hier werden Informationen und sensorische Reize längerfristig abgelegt. Das Abspeichern dauert eine Zeit und findet vor allem nachts während der Ruhephase statt. Deswegen ist genügend und guter Schlaf - auch aus der Gedächtnisperspektive - sehr ratsam.

Cute little baby boy, sleeping with bottle with formula milk. Tired child in baby cot bed

Das Arbeitsgedächtnis - mit Sitz im präfrontalen Cortex - ist als Schnittstelle zwischen Kurzzeit- und Langzeit-Gedächtnis zu verstehen. Es ist der Ort der bewussten Informationsverarbeitung, während das Kurzzeit-Gedächtnis einen passiven (und auf ca. 7 Elemente limitierten) Informationsspeicher darstellt. Arbeitsgedächtnis und Kurzzeitgedächtnis sind also nicht dasselbe.

Unterscheidung nach Inhalten

Im explizit-deklarativen Gedächtnis werden autobiographische Erinnerungen und klassisches (Fakten)Wissen abgespeichert. Das explizit-deklarative Gedächtnis wird deshalb in zwei Unterkategorien unterteilt.

episodisches GedächtnisBsp. der erste Kuss
semantisches Gedächtnis

Hauptstadt von Frankreich

Organisator des explizit-deklarativen Gedächtnisses ist der Hippocampus

Aggressive dog, fox terrier barks

Für die Abspeicherung von Reizen bzw. Informationen im impliziten, nicht deklarativen Gedächtnis spielen die Basalganglien eine wichtige Rolle. In diesem Bereich des Gedächtnisses unterscheiden wir folgende Unterkategorien:

prozedurales GedächtnisBsp. Fahrradfahren
assoziatives GedächtnisBsp. erlernte Angst vor Hunden
nicht-assoziatives GedächtnisBsp. Gewöhnung an Strassenlärm

Sowohl Hippocampus, als auch die Basalganglien sind neuronal eng verknüpft mit der Amygdala (Teil des Stressnetzwerks im limbischen System) und dem Nucleus Accumbens (Teil des Belohnungsnetzwerks im limbischen System). Aus diesem Grund spielen Emotionen bei der Abspeicherung im Gedächtnis eine wichtige Rolle.

Zusammenfassung

Das menschliche Gedächtnis dient vor allem dem Überleben. Es bietet fast unendlich viel Speicherplatz (im Langzeitgedächtnis könnten wir die Datenmenge von rund 25 Milliarden Büchern abspeichern). In den allermeisten Fällen funktioniert unser Gedächtnis zweckmässig. Was wir aber nie vergessen dürfen: Erinnerungen sind eine Konstruktion unseres Gehirns. Das Gedächtnis erlaubt unserem Gehirn Vorhersagen über die unmittelbare Zukunft. Und da lautet die Devise: lieber schnell und "einigermassen" korrekt, als perfekt und langsam.